Die Türkei auf dem Weg zur Diktatur?
Wohin entwickelt sich die Türkei unter ihrem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan? Schon seit geraumer Zeit wurde von verschiedenen Stellen ein von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) angeleiteter konservativ-religiöser Umschwung in der Türkei registriert. Während manche dies als Schritt in Richtung einer neuen türkischen Normalität betrachteten und auch begrüßten, sahen viele in dieser Entwicklung ein Anzeichen für die schleichende Autokratisierung der Türkei. Das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Gezi-Park-Protestierenden im vergangenen Jahr – die sich mit ihrem Protest unter anderem auch gegen das zunehmend autoritäre Gebaren Erdoğans und das vermehrte Hineinregieren in vormals private Lebensbereiche gerichtet hatten –, die über Youtube lancierten massiven Korruptionsvorwürfe gegen Regierungsmitglieder, die beträchtlichen Einschränkungen der Pressefreiheit und Verstöße gegen die Menschenrechte und schließlich die Sperrungen von Twitter und Youtube, fachten die Skepsis gegenüber Erdoğan in jedem Fall weiter an.
Erdoğan galt vielen Beobachtern im Zuge der jüngeren Ereignisse als politisch und moralisch angeschlagen, weswegen der Ausgang der kürzlich abgehaltenen türkischen Regionalwahlen mit viel Spannung erwartet wurde. Nicht wenige rechneten zumindest mit einem deutlichen Denkzettel für die AKP. Doch diese ging mit rund 44% als klarer Sieger aus den Wahlen hervor. Erdoğan – der selbst gar nicht zur Wahl stand, diese aber gleichwohl zu einer Abstimmung über seine Person stilisiert hatte – drohte kurz nach dem Wahlerfolg seinen politischen Gegnern mit martialischen Worten. Diese Äußerungen riefen viel Empörung hervor. Warum, so fragen sich viele Beobachter, wird Erdoğan trotz alledem gewählt und was hat er wirklich mit der Türkei vor?
Mit der konfrontativen Siegesrede Erdoğans setzen sich Kumru Toktamis und Emra Celik auf der Seite openDemocracy kritisch auseinander. Demokratisch sei nicht einfach, wer Wahlen gewinne, sondern, wer fair und angemessen mit seinen politischen Gegnern umgehe. Und hieran mangele es Erdoğan deutlich. Dessen Anrufung der nationalen Einheit im Geiste des bekannten türkischen Slogans „eine Nation, eine Flagge, ein Staat“, ziele darauf ab, abweichende politische Meinungen und Stimmen zu verhindern, ja diese als Angriffe auf das – von Erdoğan definierte – türkische Interesse zu delegitimieren. Wer seine politischen Gegner als unmoralische Verräter bezeichne und sogar zu Tieren erkläre, die in Höhlen lebten, könne wohl kaum als demokratischer Führer angesehen werden, so Toktamis und Celik.
Auch Gerrit Wustmann erachtet auf der Seite Telepolis die Demokratie als den eigentlichen Verlierer der türkischen Regionalwahlen. Erdoğans Umgang mit seinen politischen Gegnern mache (abermals) deutlich, dass ihm an demokratischen Gepflogenheiten oder echtem Pluralismus nur wenig gelegen sei und dass er die Türkei in eine Diktatur umzubauen gedenke. Die Wahlen selbst hätten zudem viele Unregelmäßigkeiten aufgewiesen: Wahlzettel mit Stimmen für die Opposition seien auf dem Müll gelandet, großflächige Stromausfälle hätten insbesondere in oppositionsnahen Bezirken die Stimmenauszählung beeinflusst, der Zugang zu regierungskritischen Medien wurde behindert. Mit diesen und vielen weiteren problematischen Aspekten der vergangenen Wahlen, setzt sich auch Halil Gurhanli in einem Beitrag auf der Seite openDemocracy auseinander.
Dario Nassal sieht in einem Gastbeitrag auf der Seite Die Freiheitsliebe die Türkei ebenfalls auf dem Weg in Richtung Autokratie. Über den Ausgang der Regionalwahlen wundert er sich indes ebenso wenig wie Toktamis und Celik – und das liegt weniger an möglichen Wahlfälschungen, als vielmehr an der gesellschaftlichen Konstellation und an den Entwicklungen, die die AKP in den letzten Jahren in der Türkei maßgeblich mitangestoßen hat. Die Situation sei sehr viel komplexer, als dies viele westliche Beobachter wahrhaben wöllten. Die AKP habe sich in den vergangenen Jahren durchaus auch für mehr demokratische Elemente und mehr Teilhabe bis dato unterrepräsentierter oder exkludierter Gruppen eingesetzt. Dabei habe es die AKP vermocht, ganz verschiedene Gruppen hinter sich zu vereinen: neben den traditionell konservativ-religiösen Bevölkerungsschichten zähle die AKP junge – und urbane – Wähler, Kurden und die aufstrebenden anatolischen Unternehmer zu ihren Wählern. Auch habe Erdoğan für einen wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt, der allgemein honoriert würde und für Viele schwerer wiege, als die von der Opposition in Umlauf gebrachten Korruptionsvorwürfe.
Überhaupt die Opposition: Nassal betont, dass die sich im Gezi-Park formierende neue Opposition keine Einheit sei, sondern vielmehr inhaltlich im höchsten Maße zersplittert. Die größte der alten Oppositionsparteien, die frühere kemalistische Staatspartei CHP, sei aus verschiedenen Gründen diskreditiert. Toktamis und Celik betonen im Hinblick auf die Oppositionsparteien insbesondere, dass diese inhaltlich auch nicht viel mehr zu bieten gehabt hätten, als den ständigen Verweis auf die über Youtube verbreiteten Korruptionsvorwürfe. Das genüge aber bei Weitem nicht, um Wahlen gegen Erdoğans AKP zu gewinnen.
Auch dass es Erdoğan immer wieder gelungen sei, sich selbst, die AKP und die Türkei zu Opfern verschiedener in- und ausländischer Intrigen und Verschwörungen zu stilisieren, habe sicherlich zu dem deutlichen Wahlsieg beigetragen.
Der Sieg autoritär-konservativer oder auch chauvinistisch-nationalistischer Politiker – wie etwa jüngst im Falle Ungarns – lässt viele westliche Beobachter immer wieder verblüfft oder ratlos zurück. Dass ein bloßes Schwarz-Weiß-Denken zur Erklärung politischer Phänomene jedenfalls oftmals nicht weit trägt, darauf wurde hier in anderen Zusammenhängen schon des Öfteren hingewiesen. Eine differenzierte Sichtweise ist vonnöten. Auch im Falle der Türkei bewahrheitet sich dies abermals.